Im April 1915 war im Ersten Weltkrieg an der Westfront ein entscheidender Moment gekommen. Er hätte den Stellungskrieg wieder in einen Bewegungskrieg verwandeln und so den Lauf des Krieges entscheidend verändern können. Monatelang hatten die Deutschen nämlich den ersten Giftgas-Angriff der Geschichte geplant und vorbereitet. Alles lief planmäßig; wie beabsichtigt, erstickten Franzosen und Engländer zu Tausenden in den Chlorgaswolken bei Ypern. Eine kilometerweite Bresche im gegnerischen Grabensystem tat sich auf, in die man hätte nachstoßen können, nein: MÜSSEN; das Überraschungsmoment ausnutzen müssen! Aber, was passierte? Die deutsche Führung hatte für diesen entscheidenden Angriff NICHTS vorbereitet! So, als hätte man an den Erfolg des perversen Giftgas-Angriffs selbst gar nicht geglaubt, verharrte man tatenlos und ließ dem Gegner Zeit, sich zu fangen. Und dann war es zu spät.

Es gibt noch einige Beispiele, wie die deutsche militärische Führung im Verlaufe des Ersten Weltkrieges mit einer grotesk anmutenden Inkompetenz haarsträubende Fehler beging, an deren Ende schließlich die Niederlage stand. Nehmen wir Verdun 1916, als man beschloss, mit Dauerangriffen auf den Festungsgürtel an der Maas den Gegner „auszubluten“. Vater dieses Idiotenplans war Generalstabschef Erich von Falkenhayn, der eigentlich gar nicht wusste, was er eigentlich erreichen wollte. Wollte man nun durchbrechen? Oder doch nicht und den Gegner nur „zermürben“? Eine Unklarheit, die eine halbe Million Männer in der Hölle um Verdun das Leben kostete. Nur dass man im Herbst 1916 wieder genau da stand, wo man angefangen hatte.

Schließlich erklärte man 1917 der Entente wieder den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, als jedem klar sein musste, dass das die USA mit ihrer gigantischen Rüstungsmacht zum Kriegseintritt bewegen würde ... „Zu viele Regimenter. Zu viele Flugzeuge“, schrieb Remarque.

Und schließlich, um das Maß preußischer Dummheit vollzumachen, die Aktion, die zum Matrosenaufstand in Kiel führte: Die Marineoffiziere wollten zur Rettung ihrer Ehre in eine völlig sinnlose, finale Showdown-Seeschlacht ziehen. Worauf die Matrosen meuterten und die Revolution wie ein Lauffeuer um sich griff.

Worauf ich hinauswill, ist folgendes: Die verantwortlichen preußischen Militärs um Hindenburg und Ludendorff, die im September 1918 angesichts einer völlig aussichtslosen Lage um Waffenstillstand nachsuchten, schafften es, von dieser ihrer Verantwortung und Schuld abzulenken und sie anderen, völlig Unbeteiligten, in die Schuhe zu schieben. Es wurde die sogenannte „Dolchstoßlegende“, die Revolution sei an der Niederlage schuld, erlogen und erstunken, um vom eigenen Totalversagen abzulenken. Und was tat ein großer Teil der Deutschen? Sie glaubten den Scheiß. Sie hatten nicht den Mut, die wahren Schuldigen, nämlich ihre idiotische, inkompetente und verbrecherische militärische und politische Führung an den Pranger zu stellen. Nein, sie pickten sich die Schwächsten heraus, die Wehrlosen, die Meuterer, die Revolutionäre, die Kommunisten, die wie ihre Mütter, Väter, Schwestern und Brüder vier Jahre lang eine immer scheußlicher werdende Spirale von Entbehrungen und Strapazen geduldig mitgetragen und sich aufgeopfert hatten, bis sie die Schnauze voll hatten.

Und ich sage: Dasselbe erleben wir gerade wieder. In dieser „Corona-Krise“ ist das Versagen der politischen und medizinischen Führung dermaßen eklatant, dass es zum Himmel schreit. Aber die Schuld dafür schiebt man anderen in die Schuhe. Einer Gruppe, die einen Scheiß dafür kann, dass in diesem Winter 21/22 an die 35.000 Pflegekräfte und 6.000 Intensivbetten fehlen; einer Gruppe, die einen Scheiß dafür kann, dass eine Informationsstruktur fehlt, die belastbare Daten liefert und nicht irgendeinen Zahlenschrott von Instituten, die von verfetteten Bürokraten geführt werden und zu faul sind, den Hintern hochzukriegen.

Die schwächste Gruppe, die unaggressivste, die Ungeimpften, sie bekommt den ganzen Zorn der Heuchler ab, deren Agenda lediglich ist, vom eigenen Versagen abzulenken. Die Dolchstoßlegende 2.0 lautet: „Das Land leidet unter der Tyrannei der Ungeimpften“, es ist die „Geisel der Ungeimpften“, es ist „im Würgegriff der Ungeimpften“. Ihnen gibt man die Schuld, dass dieses Land in dieser Krise an die Wand fährt. Und der treudoofe deutsche Michel, der noch nie den politischen Mut hatte, eine inkompetente Führung zur Rechenschaft zu ziehen, sondern stattdessen lieber auf Unschuldigen herumhackt, grinst mehrheitlich wieder dazu. Gute Nacht, und viel Glück.

 

(An alle „Faktenchecker“: Meine Darstellung zum Ersten Weltkrieg ist in allen Geschichtsbüchern nachzulesen. Mein persönlicher Favorit ist Joe Heydeckers Standardwerk „Der große Krieg“; dazu ergänzend Remarque, „Im Westen nichts Neues“.)