Vor kurzem hat ein Ami, mit dem zusammen ich hier in Deutschland ein Konzert geben wollte, seine Teilnahme abgesagt, weil ich ihm nicht genug hektische Betriebsamkeit entfaltet habe. Es war zwar noch Monate hin bis zum Event, und es war bis auf ein Sachproblem alles schon zufriedenstellend  durchstrukturiert, auch die PR war schon komplett geklärt, und es ging auch wirklich nur um einen kleinen lokalen Gig in einem Saal, der vielleicht zweihundert Menschen fasst – aber ich machte nicht genug Action. Andauernd schrieb er mir lange Mails, die ich kaum die Zeit fand zu beantworten, brachte dauernd neue Ideen, wollte neue Musiker mitbringen, neue Stücke machen, obwohl wir die Setlisten & Abläufe schon festgelegt hatten, wollte einen Livestream organisieren – kurz, er veranstaltete voll die Hektik. Und als ich ihm dann sagte, dass ich hier auf meiner Seite erst etwa einen Monat vor dem Termin die konkreten Vorbereitungen starten würde, weil das gut reichen würde und ich vorher auch dauernd Veranstaltungen hätte, sagte er ab. Ein Freund von mir kommentierte, das habe wohl auch mit gewissen kulturellen Differenzen zu tun.

In der Tat. Je mehr ich hinschaue, desto mehr fällt mir das auf. Zum Beispiel bekomme ich Tag für Tag von „Bloglovin‘“ eine Mail mit dem Titel: „Zwanzig trendige Posts, die Sie heute lesen müssen.“ ZWANZIG? Spinnt ihr eigentlich? Am tollsten ist es dann aber, wenn zum Beispiel Dutzende neuer Tricks und Techniken angeboten werden, um „persönlichen Stress zu reduzieren“:

14 Stress Fighting Rituals To Try Today

Don’t allow stress to have a negative effect on you. These are 14 stress fighting rituals to try today!

Was für ein Stress es ist, über ein Dutzend Tricks und Strategien zu lesen (und vielleicht ja auch umsetzen zu wollen!), darauf  kommen diese hyperaktiven Typen nicht. Im selben Atemzug prangern sie „24 Gewohnheiten“ an, die einen von der Arbeit abhalten – vielleicht ist eine ja, dauernd solchen Blogmüll zu lesen, statt endlich mal in die Gänge zu kommen?!?

Heute lese ich dann Folgendes:

Hey There!

We decided to mix things up this week + go along with the theme of SUMMER, because why not? We mean, it only comes once a year, and if we’ve learned anything from the articles below, it’s that relaxing + detoxing from social media is sometimes the best way to get the creative juices flowing. So kick back, relax + take a moment to enjoy the fact that it’s summertime!

Und dann – der Hammer! – kommen dazu die “must-have-must-read”-Artikel:

·         ♡ The Ultimate Summer To Do List by Zanita

·         ♡ 10 Ways to Take a Social Media Detox by Glitter Guide

·         ♡ How to Admit You’re Overwhelmed at Work by EveryGirl

·         ♡ Pack a Photographer on Your Next Trip by Bloguettes

·         ♡ 1 Habit All Successful + Happy People Share by FWL

·         ♡ 3 Things to Do for the Perfect Work/Life Balance by Career Girl Daily

·         ♡ 18 Fun Things You Need To Do This Summer by POPSUGAR

·         ♡ You’re Going to Regret How Much Time You Spend on Social Media

Das ist so absolut brunzdumm, es spottet jeder Beschreibung. Acht Links! Mit "10 Wegen", "1 Gewohnheit", "drei Dingen" und „18 Sachen, die Spaß machen“ – ihr habt sie doch nicht mehr alle, Leute. Die „eine Gewohnheit erfolgreicher Leute“, die lass ich mir gefallen. Und ich wette: Sie besteht darin, dieses ganze sinnlose Gelaber ungelesen in den Orkus zu befördern. Ja, sinnlos – denn man muss was umsetzen, wenn es was bringen soll. Sich mit leerem Gerede zuzudröhnen, das man nie und nimmer verarbeiten kann, schadet da eher. Aber der absolute Knüller ist der letzte Link: „Es wird Ihnen noch leid tun, wie viel Zeit Sie mit sozialen Medien verschwenden.“ In der Tat! Blöder geht’s wirklich nicht. Sich in einem Atemzug selber fröhlich widersprechen – das können echt nur gehirnamputierte Amis.

Was tun? Ausschalten, abschalten, den ganzen Hype nicht mal ignorieren. Aufrecht hinsetzen, ruhig & tief atmen & alles abfallen lassen. So in der Art. Neunzig Prozent in der Inbox ungelesen löschen.

Aber nein:

“Bots seem to be all anybody can chat about these days, and if you’re anything like us, than you’ve felt slightly intimidated by the subject. We did some research on the topic and what we found only makes us more excited for the future of our industry! We are here to tell you: Chatbots are COOL + they offer growing opportunities for brands + influencers alike. So stop delaying the inevitable and dive into the articles below!”

Da ist er, dieser hyperaktive Macher-Ton. Gar nix ist cool, ihr Zwangsneurotiker! Chatbots schon mal gar nicht, weil unglaubwürdig! Aber nein, ja nicht nachfragen, wozu die ganze Chose überhaupt in Bewegung geht! Nicht nachfragen! PASSIERT! MACHEN! „Just do it“ – ja klar, spring einfach Kopf voraus in das Planschbecken! Gestern standen wir am Abgrund, aber heute sind wir schon einen Schritt weiter! Hauptsache, es geht vorwärts! Sonst sterben wir auf der Stelle!

Und dann sagt einer der besonneneren Menschen in Amiland:

„Sobald Jugendliche einmal entdeckt haben, dass sie nicht jeden Gedanken glauben müssen, beginnen sie auszuprobieren, die abwertenden und unfreundlichen (manchmal unglaublich brutalen) Gedanken ihrer Mitschüler, Trainer, Lehrer und Eltern distanzierter zu betrachten – und auch die pausenlose Sturzflut aus den Medien, die ihnen sagen, wer sie zu sein haben, wie sie auszusehen und sich zu benehmen haben, was sie anzuziehen und zu kaufen haben.“ (Hervorhebung von mir.)

Das ist Amy Saltzman in ihrem Buch „A Still Quiet Place“. Sie bringt Kindern und Jugendlichen Meditation bei, Achtsamkeit, Gelassenheit. Das einzige Gegengift: meditative Langsamkeit, gelassene Achtsamkeit, freundliche Langeweile. Doing more by doing less.

Aber „Achtsamkeit“ ist der neue Hype in Amiland. Das ist das Schärfste: die Gefahr, dass sie mit diesem Thema wieder genauso gestört umgehen. Dass das Wesentliche dabei verlorengehen würde, wenn man das Meditieren genauso neurotisch gestört betreiben würde, wie sie alles andere betreiben – auf dem Auge sind sie blind. Das ist die Ironie der Situation: Sie sehen die Ironie der Situation nicht.

Also, mein lieber Freund in Arizona, wo es über 40 Grad hat: Nicht nur äußerlich ist es bei dir heiß, sondern auch innerlich machst du und machen viele bei euch mächtig Feuer unterm Kessel. Wie dumm. Wie wirklich, buchstäblich „uncool“. Die Suppe ist nämlich fertig, braucht höchstens noch ein bisschen zu köcheln. Denk mal drüber nach. “We do not have to speed or rush in order to accomplish a wholesome life.”