Es hat mich wieder erwischt: Ich habe eine Schachphase. Periodisch fällt es mich an, dass ich dieses irrsinnige, gnadenlose Spiel, das jeden Fehler erbarmungslos bestraft, das eine Wissenschaft, ein ganzer Kosmos für sich ist - dass ich mich wieder übe in dieser königlichen Disziplin, diesem Kampfsport. Ich verliere gegen den Computer natürlich andauernd. Ich räche mich an ihm dadurch, dass ich reichlich, wo immer nötig, von der "Zurücknehmen"-Funktion Gebrauch mache. Dadurch lerne ich den irrsinnigen Variantendschungel kennen. Nicht durch Notationen. Zu kompliziert. Ich schaue mir die Stellungen an, analysiere die Waffenwirkungen, wo Gabel, Spieß, Abzugschach, Kontrolle offener Linien, Bauernwalze und das ganze restliche Arsenal des kultiviert-unerbittlichen Schreckens dir sagen: Deine Taten haben Folgen. Bedenke sie, BEVOR du handelst. Denn du kannst nichts ungeschehen machen. Das Leben ist keine Generalprobe! Ich verliere natürlich immer weiter. Ich leugne die Unerbittlichkeit des Lebens, ich sage: "Ist nur ein Spiel", spiele mit "Zurücknehmen" und suche Wege zum Sieg. Zunehmend finde ich sie. Mit der Zeit, so stelle ich jetzt nämlich in dieser neuen Schachphase fest, ist ein Bodensatz von Grundkompetenz entstanden. Besser kenne ich jetzt nämlich die verbundenen Waffenwirkungen von Gabel, Spieß, Abzugschach, Kontrolle offener Linien (diagonal, horizontal, vertikal), Bauernwalze und dem ganzen restlichen Arsenal des kultiviert-unerbittlichen Schreckens. Was allerdings immer noch eklatant scheiße ist, ist die Tatsache, dass ich trotzdem in meiner Impulsivität immer noch die dümmsten Fehler mache: Mit einer schweren Figur dahin ziehen, wo sie straflos geschlagen werden kann, zum Beispiel. Schätze, ich bin halt doch immer noch ein schlechter Schachspieler. Ist mir egal. Ich spiele weiter. Denn eins darf man auch nicht vergessen: Das mit diesen dummen Fehlern ist mir ja schon klargeworden. Wenn ich also ACHTSAMER werde, kann ich diese Dinge vermeiden lernen. Und sollte ich jetzt einmal gegen einen realen Gegner antreten können, hätte ich deshalb vielleicht sogar ganz gute Chancen. Denn der ist auch nur ein Mensch. Kein Computer. Er wird Fehler machen. Ich werde ihn mit Gabel, Spieß, Abzugschach, Kontrolle offener Linien (diagonal, horizontal, vertikal), Bauernwalze und dem ganzen restlichen Arsenal des kultiviert-unerbittlichen Schreckens niederwerfen. Und dann werde ich ihn (oder sie) mit der letzten Waffe, der Kunst des systematisch-unerbittlichen Mattsetzens, zur Kapitulation zwingen. Oder auch nicht. Wenn du es im Spiel tust, ist es nur ein Spiel. Das königliche Spiel des Sisyphos. Die Krone eines Kriegers, den die Greuel des Blutvergießens in die freundliche Welt eines fairen, freundschaftlichen Kräftemessens geführt haben. Man muss sich Schachspieler als glückliche Menschen vorstellen.